Das Ding mit dem Zufall und die analoge Renaissance
Weil die Schwimmhallen nachvollziehbarerweise nach wie vor geschlossen sind, habe ich nach mehr als 10 Jahren wieder mit dem Radfahren und Laufen begonnen.
Beim Stöbern nach entsprechender Bekleidung und Equipment habe ich in einem Kellerkarton einen mp3-Player wiedergefunden, den ich anscheinend zuletzt 2007 benutzt habe, kurz bevor ich mir mein erstes Smartphone angeschafft hatte.
Die Art und Weise, wie wir Musik konsumieren hat sich seit den späten Nullerjahren enorm gewandelt. Begrenzte Kapazitäten portabler Speichermedien haben damals die Notwendigkeit geschaffen, eine Auswahl darüber zu treffen, welche Musik uns mehr oder weniger wichtig ist. Diese Art von “Forced Choice” Auswahl kennen wir im Jahr 2021 fast nur noch in Fragebögen zur Präferenzmessung, in der realen Welt haben Dateninfrastruktur und Plattformökonomie völlig neue Konsumoptionen geschaffen.
Anscheinend habe ich 2007 (als intensiver Filesharing Nutzer) sehr viel mehr unterschiedliche Musikstile gehört im Vergleich zu heute (als Streaming-Nutzer mit entsprechend intensiven Datenspuren für den Empfehlungsalgorithmus) - mein Musikgeschmack 2021 scheint also im Vergleich zu 2007 deutlich mehr lokal optimiert.
Damit ist der mp3-Player nicht nur ein physisches Speichermedium für Musik, sondern auch einer früheren Identität, welche ich zufällig wiederentdeckt habe, weil eine weltweite Pandemie die vormals gültige Normalität der Kontingenzbeziehungen zwischen physischer Realität und Selbst unterbrochen hat.
2007 war zufälligerweise ebenfalls das Jahr, in dem ein Buch veröffentlicht wurde, welches genau diesen Zusammenhang zwischen physischen Objekten und der Konstruktion von Identität beschreibt: Sherry Turkle, Direktorin der Forschungsgruppe Technology and Self am MIT, sammelt in Evocative Objects - Things We Think With eine Auswahl von teilweise sehr intimen Essays, in denen Forscher aus unterschiedlichsten Fachbereichen über Objekte der konkreten Dingwelt schreiben, die für sie Emotionen und Erinnerungen transportieren und sie zu den Personen gemacht haben, die sie zum Zeitpunkt des Schreibens jeweils waren: ein Nudelholz, ein gelber Regenmantel, ein Staubsauger, ein Blutzuckermessgerät, das erste eigene Auto, ein Synthesizer, ein Koffer, Knoten, oder ein Teleskop.
In den vergangenen Ausgaben von kurios & käuflich habe ich ausgiebig über das Spannungsverhältnis zwischen Selbst und sozialer Umwelt, Konsensrealität und Fragmentierung durch Kommunikationstechnologie geschrieben. Nicht weniger spannend für die Analyse von Konsum und Kultur ist das Spannungsverhältnis zwischen virtueller und physischer Realität: wir konstruieren unser Selbst als Inseln (bzw kollektive Inselgruppen) in einem virtuellen Meer von Bedeutungen, aber physische Natur an sich hat keine Bedeutung an sich.
Diese “Rohheit” und Ursprünglichkeit von physischer Realität erfährt trotz, vielleicht sogar aufgrund aller Virtualisierung und Algorithmisierung unserer alltäglichen Erfahrungswelt eine zunehmende Relevanz in unserer Konsumkultur, als Beispiele (in absteigender Reihenfolge von Massenmarkt zu Nische) mögen dienen:
Holzfußböden und blankes Mauerwerk, Anmutung von Authentizität im Wohnbereich, selbst wenn nur durch Simulation
Produktverpackungen mit Altpapierkartonanmutung, als visuelles Signal für das ökologische Bewusstsein, aber vor allem auch als Signal für die “Authentizität” der jeweiligen Marke. Seit Mitte der 2000er Jahre, also mit zunehmender Virtualisierung unserer Erfahrungswelt durch soziale Medien, hat das Attribut “authentisch” in den Positionierungen von Marken enorm an Relevanz zugenommen.
Erlebnisse in der freien Natur, Outdoor, Campen, Angeln, Survival Training als Erlebnisgutschein - dies ist insbesondere spannend vor dem Hintergrund des Zusammenhangs zwischen mentaler Gesundheit und Eindrücken der natürlichen Umwelt.
die analoge Renaissance von Speichermedien: Revival von Vinyl-Schallplatten und Kassetten
Physische, anfassbare Produkte und Erlebnisse in der physischen Realität dienen als Identitätsvehikel, sie helfen uns bei der Integration mit unserer dinglichen Umwelt, und dadurch mit unserem eigenen Selbst. Die Anschaffung eines Produktes im Wert von 10.000 EUR kann die Wahrnehmung des eigenen Wohlbefindens signifikant steigern. Das kann aber auch das Pflanzen von 10 Bäumen in der Nachbarschaft, mit einem Effekt, der einem zusätzlichen Einkommen von 10.000 EUR je anliegendem Haushalt entspricht.
In der Kognitionswissenschaft beschreibt die sogenannte Theorie des Erweiterten Geistes (Andy Clark & David Chalmers, The Extended Mind, 1998), dass unser Bewusstsein und Denken nicht nur auf dem Gehirn (oder Körper insgesamt) als biologischen Apparat in der Dingwelt basieren, welcher eindeutig von anderen Dingen abgegrenzt werden kann, sondern sich über die Körpergrenzen hinaus in die Umwelt erstrecken.
Nach der Extend Mind Hypothese gehören unsere Überzeugungen und Wünsche, aber auch unsere Wahrnehmungen und Problemlösungen nicht exklusiv zu unserem Selbst, sondern entstehen erst durch die Interaktion mit unserer sozialen und physikalischen Umwelt. Im Bereich der Problemlösung kann das Tetris-Spiel als ein Beispiel für eine “epistemische” Handlung verstanden werden: erst durch das Rotieren der Spielsteine auf dem Bildschirm lösen wir das Problem, an welcher Position auf dem Spielfeld sich die Steine am besten einfügen. Wir rotieren die Spielsteine nicht zielgerichtet (als “pragmatische” Handlung, so wie wir beispielsweise ein Loch schaufeln würden, um einen Baum zu pflanzen), sondern probieren aus, um neues Wissen zu generieren und zu lernen.
Wer schon einmal explorativ mit Rohdaten in der Marktforschung gearbeitet hat, kennt den Flowzustand, den epistemische Handlungen erzeugen können. Dieser Flow entsteht durch eine optimale Balance zwischen gefühlter Sicherheit in einem vorhersehbaren Feld von Zusammenhängen und der akuten Orientierungslosigkeit in einem scheinbar wenig vorhersehbaren Unbekannten.
Eine besondere Rolle bei epistemischen Handlungen nimmt der Zufall ein: der Begriff der Serendipität bezeichnet eine zufällige Beobachtung von etwas ursprünglich nicht Gesuchtem, das sich als neue und überraschende Entdeckung erweist. Bekannte Beispiele für Innovation durch Überraschung sind der Klettverschluss, das Post-it, das Linoleum, oder das LSD.
“Der glückliche Zufall” bezieht sich aber nicht nur auf den vermarktbaren Wert der Entdeckung, sondern auch auf die sehr persönliche, nicht planbare Erfahrung des Moments der Entdeckung. In diesem Sinne ist Zufälligkeit auch ein Ausdruck von authentischer, lebendiger Natur, gewissermaßen einem Hintergrundrauschen unseres evolutionären Ursprungs.
Meine Hypothese ist, dass ein optimales Maß an Zufälligkeit, genauso wie ein optimales Maß an Dissonanz, ein optimales Maß an Reibung mit der Welt darstellt, das uns epistemisch unsere Verankerung in der physischen, natürlichen Realität bewusst macht.
In der automatisierten Zukunft, in einer zunehmend algorithmisch optimierten Umwelt, werden Zufälle immer unwahrscheinlicher und damit als Erfahrung von lebendiger Natur wertvoller. Vielleicht ist neben Privatsphäre auch das individuell genau richtige Maß an Zufall der Luxus von morgen.
Am vergangenen Wochenende bin ich mit dem Fahrrad und meinem alten mp3-Player im Nordosten von Hamburg unterwegs gewesen, das Smartphone habe ich zu Hause gelassen. Nach einiger Zeit, irgendwo zwischen Berne und Farmsen, habe ich mich ein bisschen verirrt und musste mich orientieren, Uhrzeit und Sonnenstand vergleichen, schließlich Passanten nach dem Weg fragen. Es hat sich großartig angefühlt.
Mit analogen Grüßen,
Daniel Daimler